Das hat schon was: Das Politik-System ist systembedingt, sozusagen systemimmanent lernbehindert! Eigentlich grundsätzlich nicht lernfähig. Schon allgemein interessant und verstörend. Fast schon lustig ist die Beleuchtung der Tatsache, dass jetzt scheinbar ein Problem vom Himmel gefallen ist, das seit Monaten klar war. Sind wir also nicht in guten Händen oder wären wir alle genauso ignorant, wenn wir erst Teil dieses Politik-Systems mit seinen verkorksten Regelschleifen wären?: “Vor allem gibt es kein immanentes Maß für den Zuwachs politischer Intelligenz.” & “’anpassendes Verhalten ist die Regel, echtes Lernen die Ausnahme.’”
Danke Andreas Zielke und SZ für diesen Artikel. Abgesehen vom nur tragischen Inhalt macht er Spaß – falls man sich für einen Moment als Nicht Betroffener fühlen kann. (Normalerweise verstecke ich ja archivierte Artikel in meinem geschlossenen Blog, aber der ist einfach zu schlimm-gut. Der muß gefunden werden können) Eigentlich wollte ich die Zeitung abbestellen, weil ich a) keine Zeit mehr habe im Sommer und b) die Nerven nicht besser werden davon. Aber solche Artikel sprechen dann doch meine masochistische Ader an.
Das angesprochene Buch ‚Smile or Die (Lächle oder Sterbe) – Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt‘ könnte in diesem galgenhumorigen Sinn vielleicht ebenfalls erhellend sein.
Obszöner Hautgout
Wie eine Sturzgeburt kam das gigantische Hilfspaket der Europäischen Union zur Welt. Nein, das Bild ist unkorrekt, einer Geburt geht doch eine langwierige Schwangerschaft voraus. Hier aber erlebten wir ein Wunder der politischen Natur. In einem demiurgischen Akt wurde an einem einzigen Wochenende die 750-Milliarden-Euro-Idee gezeugt, über Nacht ausgetragen und sogleich in fertiger Gestalt zur Welt gebracht.
Jetzt aber, da sich Europa die Augen reibt und die politische und wirtschaftliche Bedeutung dieser surrealen Genese zu erkunden sucht, stellt sich eine beunruhigende Vorfrage. Warum bedurfte es überhaupt einer solchen gehetzten Notmaßnahme? Wie kurzsichtig sind die politischen Organe, dass es zum Drama des Ausnahmezustandes kommen musste? Schließlich haben sich die Zahlungsnöte der südeuropäischen Kantonisten seit Monaten abgezeichnet. Und dass sich die Spekulationstrupps des Finanzmarktes die Gelegenheit so wenig entgehen lassen würden wie bei anderen Währungskrisen, war bekannt. Jeder Laie kennt heute das Einmaleins von Wetten gegen geschwächte Staaten und Währungen.
Nichts ist einfacher, als Zahlungskrisen anzuheizen und bis zur Insolvenz hochzukochen. Von einem bestimmten Siedepunkt an sind die Wetten keine Wetten mehr, sondern sich selbst erfüllende Prophezeiungen mit Gewinnbeteiligung. Nichts einfacher darum für politisch Verantwortliche, ihre Gefährlichkeit einzukalkulieren. Welche Blockaden also behindern weitersichtige Entscheidungen in Berlin und den anderen EU-Hauptstädten? Gilt inzwischen die fatale Regel, dass man politisch – jedenfalls bei komplexeren Sachverhalten – nur noch unter höchstem Druck entscheidungsfähig ist, kaum aber mit längerfristiger Rationalität? Lernen politische Organe eigentlich? Werden sie aus Schaden klug? Oder können sie Erfahrungen und Einsichten nicht so akkumulieren wie Individuen?
Längst erforscht ein eigener Wissenschaftszweig, auf welche Weise Organisationen lernen, den Zufluss von fachlicher und arbeitsteiliger Intelligenz sicherzustellen und ihr angesammeltes Wissen zu aktivieren. Organisationen können praktisch-dumm oder praktisch-klug sein, nicht nur die in ihnen handelnden Personen. Kein Wunder ist allerdings, dass sich die meisten Erkenntnisse auf privatwirtschaftliche Unternehmen beziehen. Bei ihnen ist leicht zu definieren, was eine organisatorische Wissensmehrung ausmacht und wie sie sich bemisst – am Umsatz und Gewinn. Für politische Institutionen aber, für Parlamente und auch die Exekutive, ist die Sache schon wegen der komplizierten demokratischen Entscheidungsfindung sehr viel schwieriger. Vor allem gibt es kein immanentes Maß für den Zuwachs politischer Intelligenz.
Zählbar ist nur die Erfolgsquote bei Wahlen. Die besagt indes wenig darüber, ob ein Regierungshandeln klug ist oder nicht. Trotzdem beeinflussen natürlich wahlstrategische Faktoren die Handlungsintelligenz politischer Instanzen ganz erheblich. Wie sich dies im Einzelnen auswirkt, muss die Forschung noch klären, einig ist man sich aber, dass es an der Lernfähigkeit politischer Institutionen schwer mangelt. ‚Adaptive behaviour is common, true learning is rare‘, resümiert der englische Politologe Richard Common, ‚anpassendes Verhalten ist die Regel, echtes Lernen die Ausnahme.‘
·In der Tat, das kopflose Manövrieren der deutschen Regierung in der Eurokrise zeigt geradezu exemplarisch habituelle Lernbehinderung: kurzfristige Anpassung, wo die Not am größten ist, Passivität, wo Zeit genug wäre, frühere Lektionen zu beherzigen – und Ahnungslosigkeit gegenüber dem europäischen Ganzen. Es wäre ja noch gut, hätte in der Krise statt Besonnenheit und Vorausschau wenigstens nüchterner Pragmatismus vorgeherrscht. Doch selbst davon konnte keine Rede sein. In erster Linie setzten sich jene Merkmale durch, die für politische Lernunwilligkeit typisch sind: ein unbegründeter Optimismus, eine schädliche Vorwurfskultur, ideologische Selbstgerechtigkeit und zu allem Überfluss das Verdrängen selbst der allerjüngsten Geschichte.
Nicht zuletzt der Vorrang der Selbstgerechtigkeit vor der historischen Lektion war in diesem Fall beschämend. Als im Februar das Ausmaß der griechischen Schummelei und der daraus resultierenden Kreditprobleme endgültig zu Tage trat, wiegelte Angela Merkel griechische Erwartungen an deutsche Hilfszusagen energisch ab. Solche Zusagen würden die nötige Disziplin der griechischen Budgetpolitik aufweichen. Das war nicht nur ebenso national-borniert wie seinerzeit im Herbst 2008, als die deutsche Regierung die notleidenden Amerikaner beim ersten Ausbruch der Finanzkrise im Regen stehen ließ (‚jeder kehre vor seiner Haustür‘) und schon damals die grenzüberschreitende Dimension der Krise total verkannte.
Was die deutsche Reaktion in der aktuellen Krise aber so erbärmlich machte, ist das unangebrachte Erziehungsdiktat gegenüber den Defizitsündern. Hier kommt eine unverzeihliche historische Vergesslichkeit zum Ausdruck. Ausgerechnet die Deutschen, denen man nach dem Krieg mit generösen Krediten trotz ihrer ungeheuerlichen Verbrechen wieder auf die Beine geholfen hatte, spielen sich zum Lehrmeister eines Landes auf, dem mehr als Bilanzbetrügerei und Verschwendung nicht vorzuhalten ist.
Nicht dass solche monetären Verfehlungen aus der Sicht der EU und des Euros leicht zu nehmen wären. Ohne Haushaltsdisziplin aller Euro-Länder ist die gemeinsame Währung nicht zu halten. Doch das ist eine Selbstverständlichkeit. Entscheidend ist der andere Punkt: Im historischen Vergleich wiegen die griechischen Sünden nicht schwerer als eine Ordnungswidrigkeit. Die New York Times traf den Nagel auf den Kopf: ‚Es hat einen obszönen Hautgout, wenn Deutsche mit dem Finger auf die Griechen zeigen, die bei Rot über die Straße gelaufen sind.‘
Und es ist nicht nur unanständig, es ist ein politischer Kategorienfehler. Länder kann man, das lehren die Erfahrungen des Versailler Vertrags und eben die Lektionen der Nachkriegszeit, nicht wie straffällige Individuen behandeln. Personen lassen sich belehren, bestrafen und erziehen, nicht aber Nationen durch andere Nationen. Im internationalen Verhältnis gilt nur der konstruktive Blick nach vorn. Retrospektiv motivierte Disziplinierung, die in Wahrheit eine Strafaktion darstellt, bedeutet gegenüber Staaten und Staatsvölkern eine kolossale Anmaßung. Über Staaten thront niemand auf dem Weltrichterstuhl.
Hinzukommt, dass solche Hybris selbst kühle politische Kalkulation vereitelt. Jenseits aller antigriechischen Ressentiments wäre allein die Frage zu diskutieren gewesen, ob die harten Sanierungsregeln, die Griechenland auferlegt werden, nicht nur dessen Haushaltsdefizit verringern, sondern das Land tatsächlich in absehbarer Zeit zahlungs- und tilgungsfähig machen und wirtschaftlich wieder voll in die Euro-Zone integrieren. Oder ob nicht, weil das stark zu bezweifeln ist, eine Kombination aus strikter Austeritäts- und keynesianischer Anschubpolitik angebracht wäre. Keiner verlangt von den Deutschen selbstlosen Altruismus. Schon aus Eigennutz hätte Berlin sich der Wahrscheinlichkeit einer positiven ökonomischen Perspektive Griechenlands versichern müssen – ganz zu schweigen von der nachhaltigen Rettung des Euros. Das ist nicht geschehen.
Als ähnlich folgenreiche Lernschranke beklagt die Forschung das Grundübel des politischen Diskurses, stets andere für Fehlentwicklungen haftbar zu machen – die politischen Gegner, Südeuropa, Finanzhaie -, also die blame culture, die Vorwurfskultur nicht nur autokratischer, sondern auch demokratischer Politik. In diesen Tagen warf man sogar der rot-grünen Regierung Schröders nachträglich vor, es sei schließlich sie gewesen, die damals dem Euro-Beitritt Griechenlands zugestimmt habe. Das zeigt die ganze Niedrigkeit, zu der die Vorwurfskultur fähig ist: Als sei der Beitritt eines Staates ein lästiges Haustürgeschäft!
Letztlich verbirgt sich hinter wohlfeilen Vorwürfen gegen Dritte aber nicht nur politische Feigheit, sondern die Furcht von Politikern, in die Defensive zu geraten. Entgegen allen feierlichen Parolen, dass man sich unter Demokraten jeglicher Kritik zu stellen habe, scheint es doch schwer erträglich zu sein, sich öffentlich Blößen zu geben und Fehler und Schwäche akzeptieren zu müssen – nach wie vor ein strukturelles Problem jeder behaupteten politischen Standfestigkeit. Wie aber ist aus Fehlern zu lernen, wenn es politisch besser erscheint, sie zu negieren? Hat bisher auch nur eine westliche Regierung eingestanden, dass sie unfähig war und ist, den destruktiven Spekulationsmarkt zu zähmen?
Gleich gar nicht verträgt sich Defensive mit dem weiteren ungeschriebenen Gesetz für politische Exponenten: um jeden Preis Optimismus zeigen. Die Bundesregierung hat seit dem Aufkommen der Krise bis weit in den April dieses Jahres hinein das Märchen suggeriert, dass Deutschland sich heraushalten könne, als Experten längst die bedrohlichsten Szenarien voraussagten. Gut möglich, dass das Kabinett seinen eigenen Suggestionen erlegen ist. Das macht das Problem umso übler. Das Beharren auf viel zu optimistischen Ausblicken verschärft jede Krise – und erklärt, warum erst dann Realismus einkehrt, wenn die Katastrophe bereits in der Türe steht.
Sicher hat der zwanghafte Optimismus, der erst im allerletzten Moment nachgibt und dann schlagartig in katastrophische Stimmung umkippt, mit der Hörigkeit gegenüber dem Populismus zu tun. Seine Wurzeln reichen aber tiefer. Die Autorin Barbara Ehrenreich beschreibt in ihrem Buch ‚Smile or Die (Lächle oder Sterbe) – Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt‘, inwiefern die lückenlos-positive Grundhaltung zum kategorischen Imperativ der ganzen Gesellschaft geworden ist. Keine Lebenslüge aber ist so folgenreich wie der penetrante Optimismus. Doch wer aus all dem schließt, dass politischer Pessimismus angesagt ist, baut schon das nächste Lernhindernis auf. ANDREAS ZIELCKE
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.111, Montag, den 17. Mai 2010 , Seite 11
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